„So wie 1989“: Meine coronafreien Tage in St. Petersburg – wie in einer anderen Welt

Angesagter Szene-treff in St. Petersburg: die Lomonosov-bar

von STEFFEN KÖNIGER

ST. PETERSBURG – Seit einem knappen halben Jahr ist der Flughafen BER nun geöffnet. Laut einiger Verschwörungstheorien nur ein Gerücht, das dort tatsächlich Flugzeuge abheben. Es galt also, mit einer Reise inmitten der „Bundesnotbremse“ den Gerüchten entgegenzuwirken. Mit viel Glück ein Touristenvisum nach Rußland besorgt, Flüge gebucht und alles für einen Kurzausflug nach St. Petersburg vorbereitet. Bloß raus aus einem Land, das seine Bewohner seit mehr als einem halben Jahr mehr einsperrt, als man das mit seinem Freiheitsgefühl vereinbaren kann.

Am Flughafen BER bei Mistwetter angekommen, konnte man wirklich einchecken. An der Paßkontrolle war ich der einzige, der sich am Schalter „EU-Bürger“ anstellte – der Flieger war eh nur halb ausgebucht. Masken überall, im Flugzeug selbst gab es covidbedingt auch nur einen kleinen Schluck Wasser. Unfair die Gerüche aus der Kombüse, in der sich die Flugbegleiter irgendein leckeres Essen zubereiteten. St. Petersburg empfing mich mit ähnlich grauem Wetter, das mich Berlin verabschiedet hat.

Endlich am frühen Abend im Restaurant „tefsi“ Platz nehmen – einem mir bekannten Georgier nahe der Newa. Voll bis auf den letzten Platz. Lebhafte Athmosphäre. Keine einzige Maske. Mein letzter Restaurantbesuch dieser Art ist mittlerweile schon 15 Monate her und dem erstaunten Kellner (einem seit Jahren hier lebenden Ägypter) erklärte ich, daß es in Deutschland seit knappen sieben Monaten komplett verboten ist, sich IN einem Restaurant aufzuhalten.

Bei vorzüglichen Lammrippchen folgte die weitere Abendplanung. Meine Begleitung kam auf den Gedanken, doch ein Kino zu besuchen. Kino? Das ist erlaubt? Ich kam mir wieder vor, wie der 16jährige Schulbub, der am 10. November 1989 mit großen Augen und offenem Mund über den Kudamm schlenderte und völlig verzaubert ob all der Möglichkeiten war. Was so ein Lockdown alles mit einem anstellen kann, ist unfaßbar.

Grübelte über meinen letzten Kinobesuch. Herr der Ringe? Mir wollte es nicht mehr einfallen – man vermisst manche Sachen erst, wenn sie unerreichbar geworden sind. Kurze Suche nach einem Kino in der Nähe und schon gingen wir an der Isaakskathedrale vorbei, links neben dem Hotel Astoria befand sich das Kino und wir nahmen in gemütlichen Sesseln Platz. Mir war völlig egal, was da auf der Leinwand zu sehen sein wird. Von mir aus eine Doku über südkaukasische Springböcke mit nordossetischen Untertiteln. Es dauerte eine Weile, bis der Mitarbeiter endlich den Film startete: „Resistance“. Mit Matthias Schweighöfer als Klaus Barbie, dem Schlächter von Lyon. Ich fand es drollig, dass meine Begleitung sich umgehend bei mir entschuldigte, mich als Deutschen ausgerechnet in einen Nazifilm geschleppt zu haben. Knappe 90 Minuten Filmgenuß in englischer Sprache, die bösen Naziteile in deutsch, alles mit russischen Untertiteln. Das mich mal sowas glücklich macht… Erst danach stellte sich heraus, dass es die Filmpremiere des im vergangenen Jahr gedrehten Streifens war. Filmstart Russland, 6. Mai 2021. Wo auch sonst, in Resteuropa sind sämtlich Kinos ja „Hochrisikobereiche“ – quasi das Tschernobyl der Pandemie.

Apropos Hochrisiko: Danach empfahl sich gleich nebenan um die Ecke die kleine Bar „Made in China“. Natürlich offen. Natürlich ohne Maske. Was für ein schöner Tag! Komischer Zufall, dass wir ausgerechnet in einer Bar mit lauter Schriftzeichen gelandet sind. An immer mehr Stellen in der Öffentlichkeit schlägt sich neben der kyrillischen und englischen auch die chinesische Schrift als sichtbarer Faktor wachsenden, politischen Einflusses nieder.

Nach einem üppigen Frühstück am nächsten Morgen Überlegungen, was man noch so alles tun könnte, was in der Heimat unmöglich ist. Nix wie in das nächste Einkaufszentrum! Restaurants, Kaffeebars, Schuhläden, Juwelliere, Klamottengeschäfte, Elektronikläden – und wieder das Gefühl wie 1989.

Dann ins Fittnesstudio, Gewichte stemmen, das Laufband quälen, direkt neben den anderen Bewegungswütigen. Mindestabstand? Pah, never heard of that! Dann noch ins Schwimmbad, ein paar Bahnen ziehen mit abschließendem Schwitzen in der Sauna. Übertreibe ich nicht ein wenig? Nö, nächste Woche geht’s noch in ein Livekonzert im Marinsky-Theater. So richtig Aug in Aug mit den Musikern, auf Tuchfühlung mit den anderen Besuchern. Live? Wie fühlte sich das nochmal an? Masken sind ein Kann, kein Muss. Die machen das hier so, die Russen. Die dürfen das. Mal sehen, was sich sonst noch so anstellen läßt. Vielleicht ja ein Besuch im Fußballstadion von Zenit St. Petersburg? Hab das Stadion noch nicht fertig gesehen, dass man für die Weltmeisterschaft 2018 auf einer Insel vor der Stadt errichtet hat.

Wir entschieden uns für Eishockey, sowieso mehr der Nationalsport der Russen. Entsprechend volleres Stadion. Entsprechend größeres Superspreader-Event? Bei einer Inszidenz von unter 40? Wohl kaum. Hier geht das Leben schon seit Monaten ganz normal weiter. So, wie vor der Pandemie. Und ich werde ohne Corona zurückkehren. Dafür mit einem Virus, der hoffentlich viel ansteckender ist und vor dem auch das RKI kapituliert: dem Virus von Freiheit und Frohsinn. Nimm das, Du Merkel Du!

Bildquelle:

  • Lommossov_Bar_St._petersburg: city-guide st. petersburg

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