von MARK ZELLER
BERLIN – Die Fußball-WM 2022 in Katar ist schon lange vor ihrem Start ein umstrittenes Sportereignis. Dabei verweisen die großen Missstände im Gastgeberland auf die nicht minder großen Missstände in der Fußball-Politik. So bleiben, um wirklich spürbaren Einfluss auszuüben, wohl nur noch die Fans.
Bereits bei der Bekanntgabe des kommenden WM-Austragungsortes im Dezember 2010 hagelte es Kritik. Mehr als zehn Jahre danach muss man festhalten: Die schlimmen Befürchtungen wurden noch übertroffen. Nach Recherchen des „Guardian“ sind in den vergangenen zehn Jahren mehr als 6.500 „WM-Arbeiter“ in Katar gestorben, Bestechungen bei der Abstimmung zur Gastgeberschaft gelten als nachgewiesen, und grundlegende Menschenrechtsdefizite sind geblieben.
Am Vorhaben, das Turnier trotzdem zu spielen, ändert das freilich nichts. Mit Blick auf drohende milliardenschwere Schadensersatzforderungen, sollte jeder zumindest Verständnis für den ausrichtenden Weltverband FIFA haben, der an Katar als Austragungsort nicht mehr rütteln lassen mag. Letzteres gilt auch für die USA als Hauptkonkurrent Katars, die sicherheitshalber durch die Vergabe der WM 2026 besänftigt wurden. So funktioniert heutige Fußball-Politik!
„Politische“ WM-Vergabe
Überhaupt kann man dem Weltfußballverband ja vieles vorwerfen, aber nicht, dass er seine strategischen Großmachts-Pläne nicht offen angeht: „Die Expansion des Fußballs vorantreiben“, lautete bereits der Leitspruch von Ex-FIFA-Chef Sepp Blatter. Folglich durfte es auch niemanden wirklich überraschen, dass sich nach dem „Sommermärchen“ 2006 ziemlich exotische WM-Austragungsorte aneinanderreihten: Nach (Süd-)Afrika, Lateinamerika und Russland, nun also ein Land mit muslimischer Staatsreligion. Eine Vergabe-Praxis mit ganz offensichtlich politischem Einschlag – ungeachtet unliebsamer Realitäten.
Die ungenügende Arbeitssituation rund um die WM im Wüstenstaat am Persischen Golf wurde bereits 2014 in einer Studie des Internationalen Gewerkschaftsbundes detailliert thematisiert. Und das Thema „Stadionbau“ ist noch aus einem anderen Grund kritikwürdig: Im kleinsten Land, das jemals den WM-Zuschlag bekam, müssen nämlich fünf von acht Stadien neu errichtet werden – in modularer Bauweise, um sie nach der WM verkleinern oder ganz abbauen zu können. Nachhaltigkeit sieht anders aus! Wo aber soll die herkommen, in einem Land ohne gewachsene Fußballtradition, dem überhaupt erst die Gastgeberschaft seine allererste WM-Teilnahme ermöglicht?
Dazu gesellen sich die für Leistungssport ungeeigneten klimatischen Bedingungen, und die daraus resultierende erstmalige Verlegung eines solchen Turniers ans Jahresende, mitten hinein in die Vorweihnachtszeit, was in den traditionellen Fußball-Hochburgen nicht nur Fan-Feste, Public Viewings und Co. erschwert, sondern durch Termin-Kollisionen auch andere großen Sportverbände vor den Kopf stößt.
Scharia-Staat mit gravierenden Missständen
Der vielleicht gravierendste Missstand jedoch ist die allgemeine Menschenrechtslage in dem Emirat an der Ostküste der arabischen Halbinsel. Und die hat strukturelle Ursachen, ist Katar doch ein Scharia-Staat – und zwar einer, der aufgrund seiner Unterstützung radikalislamischer und terroristischer Gruppen seit Jahren von wesentlichen Staaten aus der eigenen Nachbarschaft boykottiert wird! In dem Land mit dem weltweit unausgeglichensten Geschlechterverhältnis ist die Unterdrückung der Frau durch ein System der männlichen Vormundschaft institutionalisiert. Darüber hinaus stehen homosexuelle Handlungen unter Strafe. Berichten zufolge bekommen selbst hoch bezahlte Spezialisten aus dem Westen schnell ernsthafte Schwierigkeiten mit örtlichen Autoritäten. Auf Kritik an diesem Teil der Wahrheit wartet man vergeblich.
Was aber spricht angesichts solch schwerwiegender Gründe überhaupt für eine Austragung in Katar? Das einzige, immer wieder vorgetragene, „Pro“-Argument lautet: Der Sport trage durch die Ausrichtung von Großereignissen dazu bei, das Land „offener“ zu machen und die dortige Menschenrechtslage zu verbessern. Dass man allerdings bereits mit dem WM-Zuschlag ein Land belohnt, und damit vor allem die bestehenden Machtverhältnisse zementiert, scheint dabei keine Rolle zu spielen. Die als „Menschenrechtsanwältin“ bekannte Juristin und ehemalige Leistungssportlerin Sylvia Schenk von „Transparency International“ etwa gab wohlwollend zu Protokoll, dass kein anderes Land bekannt sei, das so viele Reformen in so kurzer Zeit angestrengt habe – was wiederum impliziert, dass ganz offensichtlich jede Menge davon nötig waren. Schenk sagte auch: „Der Druck auf Katar muss bleiben, damit die Entwicklung auf andere Bereiche ausstrahlt.“ Nur, was sind die Druckmittel?
Inszenierter Protest statt konkreter Konsequenzen
Geld sicher nicht gegenüber einem der reichsten Länder der Welt. Und dass ein WM-Boykott nicht in Frage kommt, darüber herrscht – abgesehen von einigen Fan-Initiativen – weitgehend Einigkeit. „Amnesty International“ setzt stattdessen auf „Aufdeckung und Sichtbarmachung der Missstände und den Dialog mit allen Beteiligten“. Und selbst die sich aktuell von Holland aus formierende Protestbewegung „Football Supports Change“ lässt mit ihrer Ausrichtung „Freiheit, Toleranz und Inklusivität“ eher auf haltungsmoralische Allgemeinplätze schließen, die die Kernprobleme lieber umdribbeln. Ähnlich verhält es sich mit vorgefertigt wirkenden Erklärungen, wie der von Toni Kroos, oder den T-Shirt-Aktionen der Nationalelf.
Also lautet die Gretchenfrage: Was wird überhaupt erreicht, wenn man nur protestiert, aber letztlich keine Konsequenzen zieht? Im Grunde gar nichts – außer der (vermeintlichen) moralischen Reinwaschung aller Beteiligten: Die FIFA rühmt sich der erreichten „Fortschritte“, Spieler und Landesverbände ihrer gezeigten „Haltung“ und der Gastgeber seiner „Bemühungen“. Unterm Strich jedoch wird der ursprüngliche Plan eiskalt durchgezogen. Das Turnier findet statt – in seinen Begleitumständen zwar Lichtjahrhunderte von heutigen Menschenrechtsstandards entfernt, aber immerhin guten Gewissens für alle Beteiligten.
Wollte man den Missständen ernsthaft zu Leibe rücken, gehörten auch folgende Fragen geklärt: Warum vergibt der weltgrößte Sportverband seine Haupt-Veranstaltung an ein Land, noch bevor dort grundlegende Voraussetzungen erfüllt sind? Ist ein WM-Turnier wirklich dazu da, Verbesserungen für Arbeiten einzuleiten, die es ohne das Turnier gar nicht gäbe? Und warum werden die Proteste erst jetzt lauter, wo die Probleme bereits seit über zehn Jahren bekannt sind?
Entfernung des Fußballsports von der Basis
Eine Beantwortung dieser Fragen indes wird öffentlich nicht eingefordert, der über allem stehende „gute Wille“ wird den Verantwortlichen als hinreichend zugestanden – ein gleichermaßen irritierendes wie verbreitetes Phänomen unserer Zeit. Dass dabei vor allem auch wirtschaftliche Interessen bedient werden, wen stört’s? Ernüchterndes Fazit: Ausgerechnet in Zeiten, in denen sich der Fußballzirkus politisch gibt wie nie, kneift er, wenn’s drauf ankommt.
So darf sich keiner wundern, dass Katar 2022 genau das zu werden droht, was bereits die Kritiker der ersten Stunde prognostizierten: Der Höhepunkt der Entfernung des weltweiten Volkssports Nummer Eins von seiner Basis. Denn die hat eine klar andere Meinung: Laut einer aktuellen SPIEGEL-Umfrage lehnt eine übergroße Mehrheit (83 Prozent) der Deutschen die WM-Austragung in Katar ab, mehr als zwei Drittel befürworten demnach zudem einen Boykott der WM vonseiten des DFB. Und: Ein ähnlich großer Teil möchte sich das Turnier nicht einmal im TV anschauen! Das wäre dann wirklich ein wirksames Mittel…
Bildquelle:
- Doha: dpa