von MARK ZELLER
DUISBURG – Der lange beschworene Niedergang von geballter Fußball-Tradition war nie so real wie heute. Aktuell stemmen sich mit dem 1. FC Kaiserslautern, dem 1. FC Magdeburg, dem KFC Uerdingen und dem MSV Duisburg Deutsche Meister, Europapokal-Gewinner, Pokal-Sieger und Bundesliga-Gründungsgrößen gegen den Sturz ins Amateur-Lager. Ihr sportlicher wie finanzieller Existenzkampf wirft ein Schlaglicht auf die Probleme von Traditionsvereinen im „modernen Fußball“ – besonders in der Corona-Krise.
Mittwochabend, Stadion an der Grünwalder Straße, Minute 90 plus 2: Ein letzter Eckball, abgewehrt, Fernschuss, Tor, Ausgleich, Ende! Es ist 20.56 Uhr an jenem 1. Juli vergangenen Jahres, als sich eine eigentlich erfreuliche Saison für den MSV Duisburg beim Gastspiel bei Bayern Münchens Zweitvertretung in einen Alptraum verwandelt – in einen, der weiter andauert.
Seitdem läuft diese Szene in Duisburg in manch` geistiger Endlosschleife, denn zöge man in der Endabrechnung nur dieses eine Gegentor ab, die „Zebras“ wären als Meister aufgestiegen! So aber stürzten sie auf Platz 5, auf der Zielgeraden einer Saison, die sie bis zum Lockdown eindrucksvoll dominiert hatten. Und statt Aufstieg hieß es: Ein weiteres Jahr Liga 3, jene Schnittstelle zwischen Amateur- und Profifußball, die für die Vereine mit harten Auflagen, weiten Reisen und damit verbundenen hohen Kosten bei vergleichsweise geringen Einnahmen ein äußerst schwieriges Pflaster bedeutet.
Corona-Absturz an der Wedau
Doch damit nicht genug, setzte sich der Absturz des MSV in der neuen Saison ungebremst fort. Nach ohnehin durchwachsenem Start mussten die „Zebras“ als erstes Team in Corona-Quarantäne, was ihnen abermals einen extrem gestauchten Spielplan mit einem abermals extrem ausgedünnten Kader bescherte – genau das, was sie nach der Corona-Unterbrechung bereits den Aufstieg gekostet hatte. Zu den Covid-Fällen und zahlreichen Verletzten im Team gesellten sich gar mehrere Fälle von Pfeifferschem Drüsenfieber, von denen einer den Kapitän und Kopf der Mannschaft, Moritz Stoppelkamp, monatelang außer Gefecht setzte. Ende Januar war der Vizemeister von 1964 als Tabellenletzter endgültig auf dem Tiefpunkt der Vereinsgeschichte angekommen.
Unterm Strich drückt das Bundesliga-Gründungsmitglied aber immer noch die Last seines Lizenzentzuges von 2013, nach dem es sich trotz zweier zwischenzeitlicher Aufstiege nicht mehr dauerhaft in der Zweiten Liga etablieren konnte. „Mit einem schmalen Etat jedes Jahr eine schlagkräftige Truppe aufzustellen ist nicht einfach, und es kann dauern, bis die dann so richtig erfolgreich ist“, sagt Volker Baumann, Vorsitzender des Vereins MSV Museum, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, die wechselvolle Geschichte des Vereins erlebbar zu machen und gleichzeitig dessen Zukunft mitzugestalten.Aktuell gehe es beim MSV nur darum, die laufende Saison gut zu überstehen. Dafür immerhin zeigt sich Baumann „optimistisch, dass die eingeleitete sportliche Wende weitergeht, und man damit nicht nur die Klasse hält, sondern gleich auch eine gute Basis für die kommende Saison legen kann“.
„Chaoslautern“ in der Pfalz
Ganz ähnlich dachte man in der letzten Saison in Kaiserslautern – und steht aktuell noch schlimmer da, als damals. Dabei schaffte man seinerzeit sportlich den Klassenerhalt und konnte sich per Insolvenz entschulden, indem man sich die Corona-Sonderregelung zunutze machte, die dieses Szenario im laufenden Spielbetrieb in der vergangenen Saison straffrei zuließ. Dank Unterstützung eines regionalen Investorenbündnisses ging man gestärkt und angriffslustig in die neue Saison und sprach sogar vom Aufstieg. Doch nicht einmal sechs Monate später geht es für den vierfachen Deutschen Meister, den Heimatverein der fünf 54er-Weltmeister um Fritz Walter, einmal mehr ums nackte Überleben – und zwar so dramatisch, wie nie.
Denn der üppig ausgestattete Kader wurde zur großen Negativüberraschung der Saison. Mit gerade einmal vier Siegen aus 27 Spielen stehen die Pfälzer aktuell wohl nur deshalb noch hauchdünn über der Abstiegszone, weil die dahinterstehende Konkurrenz teilweise noch mehrere Spiele weniger absolviert hat. Sinnbildlich für die verkorkste Entwicklung bei den „Roten Teufeln“ ist die jüngste Pleite in Rostock, wo man nach starkem Auftritt und Führung mit der letzten Aktion des Spiels verlor. Und die sportliche Talfahrt wird begleitet von einer fast atemberaubenden Personal-Rochade, wobei selbst der geneigte Betrachter längst nicht mehr weiß, was davon Ursache und was Wirkung ist.
Den Anfang machte bereits in der Vorsaison der selbst für Außenstehende schmerzhafte Abgang von FCK-Idol Gerry Ehrmann. Als Aktiver je zweimal Meister und Pokalsieger mit dem FCK, als Torwart-Trainer der vielleicht erfolgreichste seiner Zunft, wurde nach insgesamt 36 (!) aktiven Jahren im Verein freigestellt – wegen „einer Reihe von internen Vorkommnissen“, so die offizielle Verlautbarung. Übersetzt: Er kam nicht zurecht mit dem FCK-Cheftrainer Boris Schommers. Nur ist der in Kaiserslautern längst ebenso Geschichte. Und das gleiche gilt mittlerweile sogar schon für seinen Nachfolger Jeff Saibene. Das muntere „Bäumchen-Wechsel-Dich“-Spiel wurde fortgesetzt mit diversen Rücktritten in den Vereinsgremien. Und das vorläufig jüngste Stühlerücken betraf dann – brandaktuell – wieder die sportliche Ebene. Am Montag trennte sich der Verein von seinem langjährigen Fitnesstrainer Bastian Becker, am Mittwoch vom Sportdirektor Boris Notzon.
Großreinemachen oder Aktionismus – das fragen sich auch die zahlreichen Anhänger des FCK. „Ich weiß nicht… elf Spieltage vor Schluss sollte man sich vielleicht lieber drauf konzentrieren, dass man Ruhe bewahrt“, sagt Marco Menches, Reporter des FCK-Fanradios, der gleichwohl den Verein mit dem ebenfalls erst kürzlich installierten Geschäftsführer Sport, Thomas Hengen, dem früheren „Weltschiedsrichter“ Markus Merk im Aufsichtsrat und dem neuen Trainer Marco Antwerpen in Verbindung mit dem erfolgreichen Nachwuchsleistungszentrum sportlich kompetent und gut aufgestellt sieht. Aber auch er weiß: „Ein Abstieg würde das alles zerstören“. Nicht nur für die „Roten Teufel“ eine Höllen-Vorstellung, wenn der Lauterer Betzenberg, Fußball-Deutschlands einst gefürchtetster „Hexenkessel“, zum Schauplatz von Viertliga-Duellen degradiert würde.
Ehemaliger Werksclub als Investoren-Spielball
Tatsächlich noch dramatischer stellt sich die Situation in Krefeld dar. Mit dem KFC Uerdingen ist ausgerechnet der erste Werksverein in der Geschichte der Bundesliga (1975) zu einem Spielball von auswärtigen Investoren geworden. Seitdem der russische Geldgeber Mikhail Ponomarev Ende letzten Jahres seinen Ausstieg angekündigt hat, herrscht beim DFB-Pokalsieger von 1985 praktisch täglich aufs Neue Bangen über den Fortbestand des Profifußballs.
Nachdem Ponomarev 2016 eingestiegen war, hatte der Club zwar innerhalb von zwei Jahren den Durchmarsch von der fünften bis in die dritte Liga geschafft. Dieser rasanten Entwicklung jedoch hielt die nach 19 Jahren Profifußball-Abstinenz marode gewordene Infrastruktur des Vereins nicht Stand. Als Konsequenz daraus darf der KFC seit der Drittliga-Rückkehr seine Heimspiele nicht mehr in der heimischen Grotenburg austragen. Stattdessen hat er dafür seit diesem Kalenderjahr nun schon den dritten unterschiedlichen Austragungsort – diesmal im rund 200 Kilometer entfernten Lotte!
Unterdessen erschwert ein undurchsichtiges Gemisch aus nicht gezahlten Rechnungen, dubiosen neuen Investoren und einem gestörten Verhältnis zur Stadt das Tagesgeschäft, in dem die Mannschaft in Ermangelung eines eigenen Trainingsgeländes aktuell noch nicht einmal geregelt trainieren kann. Das erschwert die ohnehin schwierige sportliche Situation, die der KFC „nebenbei“ zu bewältigen hat: Durch die bereits eingeleitete Insolvenz und den damit verbundenen Punktabzug, steht die in der Hinrunde recht passabel gestartete Mannschaft mittlerweile auf einem Abstiegsplatz.
„Man ärgert sich, weil das eigentlich `ne super Truppe ist“, spricht der langjährige KFC-Anhänger Daniel Möllmann stellvertretend für die Stimmung unter den Fans, die gleichwohl grundsätzlichere Dinge umtreibt: Die über allem stehende Ungewissheit über die Zukunft, in Abhängigkeit wechselnder Geldgeber. „Das ist einfach nur frustrierend.“
Die Fans jedenfalls haben in dieser Woche mit einer Spendenaktion ihre Hilfsbereitschaft gezeigt. Hoffnung macht zudem ein aktuelles Hilfsangebot einer regionalen Gruppe zur Sanierung der Grotenburg, die den Zerfall der traditionsreichen Spielstätte verhindern will. Und speist damit den sehnlichsten Wunsch der KFC-Anhänger: „Endlich wieder richtige Heimspiele haben.“
Magdeburger Fans wollen Antworten
Eine moderne Spielstätte, wenig Geldsorgen, dafür aber umso größere sportliche haben sie beim FC Magdeburg. Der Europokalsieger von 1974 biegt als Tabellen-Achtzehnter auf die Zielgerade der Saison. Eine Situation, die in der Hauptstadt Sachsen-Anhalts erhöhten Redebedarf auslöst. Dafür haben die FCM-Fans eigens eine außerordentliche Mitgliederversammlung anberaumt. „Eine Initiative, die von allen Strömungen unserer Anhängerschaft ausging“, wie der Fanbeauftragte Gerald Altmann verrät.
„Die Verantwortlichen sollen Rede und Antwort stehen zu dem, was seit dem Abstieg aus der zweiten Liga mit dem Verein passiert ist“, so Altmann. Ein genaues Datum steht zwar noch aus, weil das erwartet hohe Teilnahme-Interesse unter Corona-Bedingungen schwer zu managen ist. Dennoch soll die Versammlung noch während der laufenden Saison steigen, denn, so der Tenor der Fans: „Es kann so nicht weitergehen“.
Trotz der prekären Lage ist die Stimmung in Magdeburg in Altmanns Wahrnehmung „absolut positiv“ – nicht zuletzt, nachdem die neue sportliche Leitung um Trainer Christian Titz auf einem virtuellen Fan-Abend den Glauben an den Klassenerhalt stärken konnte. Zusätzlichen Mut macht die Rückkehr des früheren Kapitäns Marius Sowislo, der sich als neues Präsidiums-Mitglied seit dieser Woche für das Gremium um die sportlichen Belange kümmert, und dabei, so kennt man ihn in Magdeburg, das Zwischenmenschliche nicht zu kurz kommen lässt.
Wenn Tradition und Herzblut zur Belastung werden
Zweifelsohne wird also an der Elbe, genauso wie in der Pfalz und an den einander gegenüberliegenden Seiten des Rheins jede Menge Fußball-Leidenschaft gelebt. Doch viel Herzblut bedeutet im Falle von Enttäuschungen eben auch viel Herzschmerz. Und der kann schnell zu Unruhe führen – besonders, wenn prominente Ehemalige düstere Prognosen abgeben oder öffentlich gegen ihren „Herzensverein“ ledern.
In Kaiserslautern etwa feuerte der frühere Publikumsliebling Mario Basler nach dem jüngsten Spiel eine boulevardeske Breitseite ab, in der er seinem Stammverein den Abstieg prognostizierte und bei dieser Gelegenheit gleich mal fehlende Identifikation bei den aktuellen Protagonisten bemängelte. In Uerdingen gab es bereits im Januar, bei Ankündigung des Investoren-Ausstiegs, den medialen Abgesang von Vereins-Legende Friedhelm Funkel. In Magdeburg ist der frühere Torjäger und DDR- Rekordnationalspieler Joachim Streich ein verlässlicher öffentlicher Kritiker der sportlichen Entwicklung. Und in Duisburg hat sich seit dem letzten Zweitliga-Abstieg gleich eine ganze Reihe ehemaliger Spieler aus den erfolgreichen Neunzigern auf die sportliche Führung eingeschossen, nachdem bereits 2019 Klub-Ikone Bernard Dietz im Uneinvernehmen mit dem Vereinskurs seinen Vorstands-Posten niedergelegt hatte.
Eine ganz handfeste Hypothek für strauchelnde Traditionsvereine ist deren bestehende Infrastruktur mit Stadion und Mitarbeiterstab, die nicht für die gegenwärtigen sportlichen Niederungen angelegt wurde, aber jetzt quasi mitgeschleppt werden muss. Der Corona-bedingte Zuschauerausschluss schlägt dabei in Kaiserslautern, Magdeburg und Duisburg, wo man auch in der dritten Liga meist mindestens 15.000 – 20.000 Zuschauer pro Heimspiel begrüßt, doppelt ins Kontor.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Dazu wirkt die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit auch an anderer Stelle. „Eine große Tradition weckt manchmal auch falsche Erwartungen und lässt viele die Augen davor verschließen, dass es eben auch in Liga Drei harter Arbeit bedarf“, so FCK Fan Menches. Und auch „Zebra“ Volker Baumann weiß nur zu gut: „Wenn Gegenwart und Vergangenheit zu weit auseinanderklaffen, dann besteht die Gefahr, dass man zu schnell zu viel will und zu hohes Risiko geht.“
Dass der alte Anspruch „Tradition verpflichtet“ zurecht einen erheblichen – auch finanziellen – Aufwand bedeutet, steht für FCM-Urgestein Altmann außer Frage, denn „wir leben soziale Verantwortung, und die Nachhaltigkeit von Traditionsvereinen ist eine andere, als bei reinen Investoren-Clubs.“ MSV-Fan Baumann sähe es deshalb „am liebsten, wenn alle Vier drin bleiben, weil da doch ein besonderes Fanverhalten herrscht mit einer gewachsenen Verbundenheit und Emotionalität.“
Doch das scheint angesichts des aktuellen Tabellenbildes und vier Abstiegsplätzen fast unmöglich. Und Tradition alleine ist im sportlichen Wettbewerb eben auch kein Selbstläufer – nachzufragen in Aachen, Essen, Jena, Offenbach, Wuppertal, Chemnitz, Münster, Erfurt, Ulm, Wattenscheid, Oberhausen…
Bildquelle:
- Vincent_Gembalies_MSV_Duisburg: nico herbertz