von KIRSTINE FRATZ
Keiner kommt gerade an sich selbst vorbei.
Durch die Corona Brille betrachtet scheint plötzlich bei jedem das wahre Wesen durch. Die Krise offenbart, wer wir sind und was uns wirklich bewegt.
Dadurch sind wir gerade auch mit einem sehr privaten und vertraulichen Krisenmanagement konfrontiert. Dem Erkennen, Aushalten und Anfreunden mit uns selbst.
Eigentlich waren wir doch auf einem guten Weg, die Krise für uns persönlich abzuschaffen. Prävention war das Zauberwort, um das Unvorhergesehene, das Unkontrollierbare, das Außerplanmäßige in den Griff zu bekommen. Gerade was unser persönliches Leben betrifft, hat der Zeitgeist einiges im Portfolio, damit man gewappnet und gewarnt um die dunklen Löcher des Lebens herumlaufen kann und nicht durch sie hindurch muss. Gesundheit, Familie, Arbeit, Liebe und Leben sind abgezirkelte Bereiche geworden, für deren reibungsloses Gelingen eine Flut von Informationen und Services rund um die Uhr bereit steht. Im Prinzip wissen wir, wie man es machen muss, damit die Krise keine Chance hat. Und wenn sie sich dann doch durch die Hintertür eingeschlichen hat, muss sie möglichst ganz schnell wieder weggemacht werden. Und das am Besten in den dafür vorgesehenen Zeitfenstern, mit einem Aufwand, der das übrige Leben wenig tangiert.
Das Versprechen eines gelungenen Lebens in unseren Zeiten unterliegt dem Ideal des Machbaren, des Kontrollierbaren, der Idee, das Unvorhergesehene planen zu können. Dieser Gedanke ist nicht nur tröstlich und schenkt Sicherheit, er gibt uns auch Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Wir glauben daran, dass man sein Schicksal selbst in die Hand nehmen kann, und dadurch werden gesellschaftlich enorme Kräfte frei. Zu sehen sind diese in dem kollektiven Wunsch, sein Leben selbst, jenseits von tradierten Vorstellungen zu gestalten. Selten haben so viele Menschen gleichzeitig mit ihrer Kreativität und ihren individuellen Talenten an der Zeitgeist Dynamik mitgewirkt. Selten haben sich so viele Menschen etwas Eigenes zugetraut und an sich geglaubt. Angefeuert von einer Armada von Experten und Coaches, die uns darin unterweisen, wie man seinen eigenen Weg findet, um das Leben zu führen, was wirklich zu einem gehört. Dem großen Zeitgeist Versprechen unserer Zeit.
Und plötzlich Spielstopp.
Die unvorhergesehene Krise hat sich nicht nur eingeschlichen, sie hat uns voll erwischt. Schnell wegmachen lässt sie sich nicht, und unser Leben ist maximal tangiert, und zwar das von allen. Gebannt lauschen wir nun der neuen Armada von Experten, die sich aus Virologen und Ökonomen zusammensetzt. Anstatt nach seinem persönlichen Weg zu forschen wird nun gerechnet, geschätzt und gewarnt.
Man ruft „Die Welt wird eine andere werden!“, „Nichts wird wie es war!“ und doch weiß keiner gegenwärtig so genau, wie denn diese neue Welt tatsächlich sein wird. Meinungen, Ideen, Hoffnungen und Vorstellungen darüber gibt es genug, und doch orakelt jede Experten-Perspektive im Prinzip gerade darüber, was die Zukunft bringen wird.
In längst vergangenen Zeiten war man sich des Experiment-Charakters von Vorhersagen bewusster und bemühte gleich ein Orakel.
In der Hoffnung, Weisung zu erhalten, machten sich die Menschen in der Antike auf, das Orakel von Delphi um eine Vorhersage zu bemühen.
Während man auf die große Antwort wartete, befand man sich im Schatten des Apollotempels auf dem die Inschrift stand „Erkenne dich selbst“. Vielleicht die schönste Aufforderung, um sich die Zeit im Warten auf die Zukunft zu vertreiben.
Schaue ich mit wachem Geist gerade um mich herum, so sehe ich meine Mitmenschen in dieser Phase des Wartens, in genau diesem Licht der Selbsterkenntnis erstrahlen. Einige sind kritisch, planen und strukturieren, manche schöpfen Hoffnung, sprühen vor Kreativität und Tatendrang oder blühen auf in der Ruhe der Quarantäne, und bei anderen regt sich mehr und mehr der Widerstand. Sie alle sind Ihrem Wesenskern in der Krise auf einmal ganz nahe. Was vorher mit der Armada von Coaching Angeboten herausgearbeitet wurde, offenbart sich jetzt nahezu auf Knopfdruck, die Neigung, die Leidenschaft, die innere Mission, der persönliche Sog, was man braucht und was man nicht braucht.
Wir harren gerade aus im Schatten des Augenblicks, hoffen auf eine Weisung für die Zukunft und erkennen dabei uns selbst.
Obwohl wir gerade eine kollektive Erfahrungen machen tritt die Individualität eines jeden Einzelnen extrem stark hervor. Ich staune über den riesigen Kerl, der mit Tränen in den Augen vor mir steht und von der Notwendigkeit einer sozialen Revolution erzählt, daraufhin eine beindruckende Aktion mobilisiert, um Gastronomen und Barbesitzern schnell zu helfen (supportyourlocalbar.com) und meint, das wäre erst der Anfang. Ein Nachbar wiederum ist begeistert, dass sich jetzt endlich mal alle an Regeln halten müssen, und verkündet, schon fast mit dem Anschein der Erregung, das wir alle zum sozialen Gehorsam verpflichtet sind.
Zwei alte Damen aus der Nachbarschaft verweigern jede Hilfe, weil sie das alles noch selber können und sich schon mal überhaupt nichts sagen lassen, erst recht nicht von der Polizei. Die bekannten Hypochonder sind seit Wochen nicht mehr zu sehen, die Freunde von Yoga und Mediation sind euphorisch, weil die Erde endlich wieder atmet und der positive Wandel unmittelbar bevorsteht. Ähnlich euphorisch sind die Verschwörungstheoretiker und die Politikverdrossenen, aber in die andere Richtung. Es gibt Eltern, die auf einmal merken, dass intensives Familienleben ihnen den letzten Lebensgeist aussaugt, und andere empfinden die Zwangszeit mit den Lieben als äußerst belebend. Ich selbst lebe im Moment zu Hause wie in einem Elfenbeinturm und bekomme langsam eine Ahnung davon, in welchem Rhythmus sich mein Geist und meine Sinne wirklich wohlfühlen. Das Ganze begleitet von einem Teenager, der viel weniger meckert und deutlich zufriedener ist als sonst.
Die Krise trifft uns auch ins Herz und belebt damit unser Gefühl und Gespür für uns selbst. Mit dem, wie und wo wir uns lebendig fühlen oder eben nicht, wo unsere Grenzen sind und wo sich Horizonte auftun. Keiner kommt gerade an sich selbst vorbei. Wir können joggen gehen, gesund kochen, Zoom Meetings haben, Netflix zum Glühen bringen, Disney+ noch dazu kaufen, aber das wird nicht reichen, um uns in jedem Moment des Tages von uns selbst abzulenken. Dafür ist unser bekanntes Leben zu stark gestört. Was wird diese Erfahrung mit jedem Einzelnen von uns machen? Wie wird das individuelle Erleben der Krise Einfluss nehmen auf die kollektive Sehnsucht, welche wiederum Einfluss nehmen wird auf die Welt danach?
„Erkenne Dich selbst“ ist das unfreiwillige Coaching, was vielleicht ein jeder in dieser Krise gerade macht. Wie diese individuelle Erfahrung nach der Krise integriert wird, könnte eine weitere Perspektive sein auf das, was kommt.
Denn wir werden sie alle brauchen, die Regel-Verteidiger, die Zuversichtlichen, die Kritischen, die Kreativen, die Kümmerer, die Strategen, die Geschichten-Erzähler und den Widerstand. Nur so kann eine Gemeinschaft atmen, nur so werden alle Facetten abgedeckt und es geht in Richtung Zukunft.
Zukunft ist eine Abfolge von Experimenten, eine Wechselwirkung von Vorhersagen und kein planbares Szenario von einer Expertise. In diesem momentanen Warten darauf, dass die Zukunft wieder los geht, haben wir die Chance, mit uns selbst zu experimentieren, mit dem, wer wir sind, weil wir gerade nicht so können oder müssen wie sonst. Damit erfüllt sich das Zeitgeist Versprechen von „Sei Du selbst“ unter den widrigsten Umständen, weil wir kollektiv für einen Augenblick nicht mehr von uns selbst abgelenkt sind.
Vielleicht führt dieser kollektive Kontrollverlust gepaart mit Selbsterkenntnis dazu, dass solche Themen wie ein Gespür für sich und andere zu haben im allgemeinem Status steigen. Vielleicht wird Controlling nicht mehr als allmächtig angesehen. Vielleicht werden kulturelles und unternehmerisches Gefühl zunehmend als wichtigste Eignung bewertet. Letztendlich die Eigenschaften, welche innovative Unternehmer und spannende Persönlichkeiten zu dem machen, was sie sind. Letztendlich das beste Rezept, um Krisen zu meistern, auf neue kollektive Sehnsüchte zu reagieren und Zukunft zu gestalten.
Wie genau die Zeit nach der Krise aussehen wird, kann ich an dieser Stelle nur orakeln. Als Zeitgeist-Forscherin weiß ich aber eines gewiss: Wir sind die Zeit.
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