Die Kläger – Arzte, Patienten und sogenannte Sterbehilfeorganisationen – hatten Erfolg. Das in Deutschland geltende Verbot der geschäftsmäßigen Hilfe beim Selbstmord ist verfassungswidrig.Das hat das Bundesverfassungsgericht heute entschieden. Eine Analyse der Lage eklusiv für TheGermanZ…
von Prof. Dr. med AXEL W. BAUER
Das 2015 eingeführte Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe verstößt gegen das Grundgesetz. Es gebe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Andreas Voßkuhle, bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Das schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei Angebote von Dritten in Anspruch zu nehmen. Der neue Strafrechtsparagraf 217 mache das weitgehend unmöglich.
Zur Vorgeschichte des § 217 StGB
Am 6. November 2015 beschloss der Deutsche Bundestag den am 26. Februar 2020 vom Bundesverfassungsgericht letztendlich verworfenen § 217 StGB. Es wurde dabei die geschäftsmäßige Suizidhilfe unter Strafe gestellt. Anders als im Fall der Gewerbsmäßigkeit, bei der eine Gewinnerzielungsabsicht bestehen müsste, läge geschäftsmäßiges Handeln bereits dann vor, wenn jemand beabsichtigte, die Wiederholung gleichartiger Taten zum Gegenstand seiner beruflichen Betätigung zu machen. § 217 StGB stellte in Absatz 1 die „geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung“ unter Strafe. Allerdings blieben gemäß Absatz 2 Anstiftung und Beihilfe zu dem neuen Delikt dann straffrei, wenn der Teilnehmer selbst nicht geschäftsmäßig handelte und er entweder Angehöriger des Suizidenten ist oder diesem nahestünde.
Abgesehen davon, dass der unscharfe Begriff Geschäftsmäßigkeit verfassungsrechtlich problematisch war, blieb unverständlich, weshalb die Autoren des Gesetzentwurfs Angehörigen und dem Suizidenten nahestehenden Personen grundsätzlich „altruistische Motive“, „tiefes Mitleid“ und „Mitgefühl“ unterstellten, womit deren Straffreiheit begründet werden sollte. Auch „Angehörige von Heilberufen“, also vor allem Ärzte, sollten „im Einzelfall“ vom Tatbestand des § 217 Absatz 1 StGB nicht erfasst werden, weil sie dann typischerweise gerade nicht geschäftsmäßig handeln würden. Es blieb unklar, an welche konkreten Methoden der „Suizidbegleitung“ für die „im Einzelfall“ legale ärztliche Suizidassistenz gedacht war, da zumindest bislang das Betäubungsmittelgesetz nicht geändert wurde. Das in der Schweiz verschreibungsfähige Gift Natriumpentobarbital ist in Deutschland nur zum Einschläfern von Tieren zulässig.
Das Gesetz warf also mehr Probleme auf, als es zu lösen in der Lage gewesen wäre. Wie sollte man, zumal bei Ärzten, die Gewissensentscheidung in „Ausnahmefällen“ von regelmäßigem, „geschäftsmäßigem“ Handeln abgrenzen? Vor Gericht zu klären wäre dann jeweils, mit welcher Absicht und welchem „Regelmäßigkeitsbewusstsein“ die Suizidhelfer handeln. In der Bundestagsdebatte am 2. Juli 2015 betonte der federführende Autor des neuen Gesetzes, der Fuldaer CDU-Abgeordnete Michael Brand, strafbar solle nur ein Handeln sein, das „auf Wiederholung angelegt“ sei.
Dubios bliebe auch der Umgang mit dem „Sterbetourismus“ in die Schweiz: Zwar wäre die „geschäftsmäßig“ organisierte Suizidhilfe nach deutschem Recht nunmehr eine Straftat. Das hieße, dass man in Deutschland bestraft werden könnte, wenn man Teilnehmer dieses Sterbetourismus wäre, etwa dadurch, dass man den Suizidenten bei der Fahrt nach Zürich unterstützte oder selbst das Auto steuerte. Doch gerade hier sollte es eine Ausnahme geben: Angehörige oder „nahestehende“ Personen blieben nach § 217 Absatz 2 StGB als Anstifter oder Gehilfen einer solchen Tat selbst straffrei. Der neue Paragraph wollte prinzipiell verhindern, dass Menschen sich durch organisierte Sterbehilfeangebote zum Suizid „direkt oder indirekt gedrängt fühlen“. Ein direktes oder indirektes Drängen zum Suizid kann man sich allerdings am ehesten in Familien vorstellen: Ein schwerkranker Senior wird aufmerksam zuhören, wenn die Tochter oder enge Freunde über eine mögliche Fahrt in die Schweiz sprechen.
Man darf ferner nicht übersehen, dass es auch in der Ärzteschaft Kräfte gibt, die einen rechtsfreien Raum erstreben, der ihnen die Möglichkeit gibt, Patienten ein tödliches Gift für den Suizid zur Verfügung zu stellen – und vielleicht noch mehr zu tun. Keineswegs geht die Stimmung in den Bezirks- und Landesärztekammern einhellig dahin, dass alle Ärzte der Meinung wären, Suizidbeihilfe gehöre nicht zu ihren Aufgaben. Vielmehr gibt es durchaus Bestrebungen, den Willen der Bundesärztekammer durch stille Opposition zu unterlaufen. Nicht zufällig gewählt erscheint deshalb etwa die von der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer abweichende Formulierung in § 16 der Berufsordnung der Ärztekammer Westfalen-Lippe, in welcher der Satz „Sie dürfen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ in den Satz „Sie sollen keine Hilfe zur Selbsttötung leisten“ relativiert wurde.
Noch weiter ging die Bayerische Landesärztekammer, die in der Neufassung der Berufsordnung für die Ärzte Bayerns in § 16 die beiden Sätze aus der Musterberufsordnung der Bundesärztekammer, die ein standesrechtliches Verbot der Suizidbeihilfe enthalten, gar nicht übernahm. In gleicher Weise entschied sich die Landesärztekammer Baden-Württemberg in ihrer geänderten Berufsordnung. Damit dürften sowohl in Bayern als auch in Baden-Württemberg genügend Ärzte bereitstehen, die Suizidassistenz auf nicht geschäftsmäßige Weise leisten wollen. Dies ist ein Novum in der Geschichte der Medizin, nämlich ein bewusster standesrechtlicher Bruch mit der seit 2400 Jahren gepflegten Tradition des Hippokratischen Eides, der jede Beteiligung an der Tötung oder Selbsttötung eines Patienten kategorisch ausschließt.
Aus der anfänglichen Debatte um ein Verbot der organisierten Mitwirkung am Suizid war im Lauf des Jahres 2015 eine Diskussion um die gesetzlich geregelte Organisation der Beihilfe zur Selbsttötung geworden. Es geht inzwischen nicht mehr um die Einschränkung, sondern um die straffreie Ermöglichung dieser Tat, insbesondere für Angehörige und Ärzte. Da es schließlich nur zu einem Verbot der geschäftsmäßigen Suizidbeihilfe kam, signalisierte der Gesetzgeber, dass nicht geschäftsmäßige und privat geleistete Sterbehilfe staatlicherseits als legitim gelten.
Damit war bereits eine juristische Hintertür erkennbar, die als Einfallstor für suizidassistenzwillige Ärzte und Angehörige geöffnet werden dürfte: Sofern keine Eigeninteressen erkennbar und von der Staatsanwaltschaft nachweisbar wären, sollte die Beihilfe zur Selbsttötung als „nicht geschäftsmäßig“ weiterhin straffrei bleiben. Würden aber auch nur 50.000 der etwa 365.000 berufstätigen Ärzte in Deutschland jeweils einem einzigen Patienten pro Halbjahr in dieser uneigennützigen Weise „aus dem Leben helfen“, so käme man auf 100.000 legale, ärztlich assistierte Suizide im Jahr, was bei derzeit etwa 932.000 Sterbefällen in Deutschland insgesamt fast 11 Prozent aller Toten ausmachen würde.
Ein Arzt, der sich am assistierten Suizid eines Patienten beteiligt, muss zumindest das dazu erforderliche pharmakologische und technische Know-how besitzen, damit die Sterbehilfe nicht scheitert und er am Ende einen schwerstbehinderten Patienten erzeugt. Dieses Wissen wird bislang im Medizinstudium aber nicht vermittelt. Wer es sich anderweitig systematisch aneignet, handelt offensichtlich in der Absicht, diese „Kunst“ mit auf Wiederholung ausgerichteter Tendenz in der Praxis anzuwenden.
Die Verfassungswidrigkeit von § 217 StGB
Der damalige Bundespräsident Joachim Gauck unterzeichnete das Gesetz am 3. Dezember 2015, schon am 10. Dezember 2015 trat es in Kraft. Unter anderem der Hamburger Verein Sterbehilfe Deutschland (StHD) hielt § 217 StGB für verfassungswidrig; vier Mitglieder des Vereins und zahlreiche weitere Antragsteller erhoben 2016 Verfassungsbeschwerden zum Bundesverfassungsgericht. Am 16. und 17. April 2019 fand in Karlsruhe die mündliche Verhandlung mit Expertenanhörung dazu statt.
Am 26. Februar 2020 verkündete das Bundesverfassungsgericht nun sein Urteil: Das Verbot der geschäftsmäßigen Förderung der Selbsttötung ist verfassungswidrig. Damit annullierte das Gericht nicht nur einen wenig durchdachten und handwerklich unzulänglich gearbeiteten Paragraphen des Strafgesetzbuches. Dies allein wäre respektabel gewesen. Das Gericht postulierte aber darüber hinaus – kraft seiner höchstrichterlichen Autorität und ohne vorliegende Notwendigkeit – ein neues Individualrecht auf Selbsttötung sowie auf fremde Unterstützung dabei unter Berufung auf das Selbstbestimmungsrecht und die Menschwürde. Zu dessen Sicherung regte es entsprechende Maßnahmen des Gesetzgebers wie etwa die Einführung von Aufklärungs- und Wartepflichten vor dem assistierten Suizid an, wie sie etwa aus der Beratungsregelung des § 218a Absatz 1 StGB im Falle des Schwangerschaftsabbruchs bereits bekannt sind. Das Recht auf Selbsttötung verbietet es nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts ferner, die Zulässigkeit der Suizidassistenz von materiellen Kriterien wie dem Vorliegen einer (unheilbaren) Krankheit abhängig zu machen.
Mit diesem Urteil wird der Weg in eine Gesellschaft regelrecht asphaltiert, in der Menschenwürde und Selbstbestimmungsrecht gerade noch dazu dienen werden, um die – vorgeblich – freiwillige Selbsttötung verzweifelter Menschen mithilfe Dritter staatlich zu legitimieren und diese finale Handlung als ultimativen Ausdruck bürgerlicher Freiheit zu beschönigen beziehungsweise zu glorifizieren. Dem Lebensschutz hat das Bundesverfassungsgericht hier sicher keinen Dienst erwiesen. Wohl aber müssen sich diejenigen, die 2015 den § 217 StGB entgegen allen Warnungen unbedingt meinten einführen zu müssen, fragen lassen, ob nicht sie selbst es waren, die an der Wiege des Verdikts vom 26. Februar 2020 Pate standen. Gut gemeint ist leider oft das Gegenteil von gut gemacht.
Der Autor
Prof. Dr. med. Axel W. Bauer (geb. 1955) leitet seit 2004 das Fachgebiet Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Von 2008 bis 2012 war er Mitglied des Deutschen Ethikrates.
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