Guten Morgen, liebe Leserinnen und Leser!
„Ich steige in Spandau aus. Ich halte das nicht mehr aus“, sagt der sympathische junge Mann mit dem Laptop, der mir gegenüber sitzt und in den vergangenen zwei Stunden immer wieder genervt zu mir herübergeschaut hat. Nicht, weil er von mir genervt wäre, sondern weil er mit mir im ICE 278 der Deutschen Bahn sitzen muss. Ich eigentlich seit Karlsruhe Hauptbahnhof um 14 Uhr, tatsächlich aber 25 Minuten später. Deutsche Bahn habe ich gedacht und kurz voller Milde gelächelt mit meinen beiden Reisetaschen. So sind sie halt…
Doch die planmäßig fünfeinhalb Stunden dauernde Fahrt sollte noch rund sieben Stunden dauern, und sie war eine Tortur für alle Reisenden.
Das ganze Programm, viele von Ihnen kennen das
Denn gestern im ICE 278, das war kein bedauerlicher Einzelfall.
Bitte, ich will sie nicht langweilen mit allen Einzelheiten. Da kommt vieles zusammen, und es kann auch mal etwas schiefgehen. Wie überall, wie bei uns allen, bei mir natürlich auch. Aber das ganze Programm gestern: Baden-Baden Bahnhof angekommen, der Regionalzug hat Verspätung, d. h. ich werde in Karlsruhe den ICE nicht mehr erreichen. In Karlsruhe die freudige Überraschung: Weil der ICE ebenfalls Verspätung hat, bekomme ich ihn doch noch. Und – Achtung! – ohne Reservierung ergattere ich einen Tisch am Fenster, um – so dachte ich – dort mein Lager mit Laptop und Smartphone aufschlagen und 5 Stunden und 15 Minuten arbeiten zu können.
Ich konnte zehn Minuten Mails beantworten
Denn eine junge Familie aus irgendeinem Teil Schwarzafrikas fragte in Zeichensprache, ob sie sich auf die anderen drei Sitze setzen dürfte. Natürlich durften sie, es waren ja auch nicht meine. Die jungen Mitreisenden – zwei Paare, zwei Babys – begannen, sich in ihrer Sprache in einer für alle im Zugabteil anstrengenden Lautstärke zu unterhalten, dann begann eines der Babys zu schreien. Ich meine, richtig zu schreien. Durchgehend. Bis Berlin-Spandau. Fünf Stunden lang, mit einer kurzen Unterbrechung, als der kleine Kerl die Flasche bekam. Dann schrie er weiter. Die Mutter blieb ungerührt und quatschte, nein brüllte, mit ihrer Freundin neben ihr.
Jetzt werden Sie denken: Warum sagt der Kelle nix…
Und ja, nach fünf eigenen Kindern, hätte ich der jungen Mutter mit dem mürrischen Gesicht und der lauten Stimme erklären können, wie man ein Baby beruhigt, dass man es vorsichtig hin- und herwiegt und nicht wie in einer Rüttelmaschine. Aber: Wäre das nicht kulturelle Aneignung? Wäre ich dann nicht nach dem Besserwessi zum Besserdeutschi mutiert? Und, wer weiß, was so ein junger Vater in der Tasche zum Aufklappen hat, wenn ein alter weißer Mann seine Frau in einer fremden Sprache anspricht?
Ich will Sie nicht langweilen am Morgen
Deshalb nur in Kürze zusammengefasst: Der ICE blieb noch ein paarmal stehen auf offener Strecke, die offenkundig auch genervte Zugbegleiterin am Mikrofon informierte uns immer wieder in bewundernswerter Offenheit, dass man nun wieder einige Zeit irgendwo in der Einöde stehen werde, sie aber auch nicht wisse, warum und wann es weitergehe. Einmal wusste sie es doch, als sie ankündigte, dass man in Braunschweig durchfahren werde, weil da ein Mann „in suizidaler Absicht“ auf dem Bahnhof herumlaufe. Ich persönlich als Zugfahrer hätte da gerade angehalten statt mit 200 Sachen durchzubrettern.
Schön war auch noch der unvorhersehbare Stopp des ICE 278 auf dem Bahnhof Wustermark. Da – so erfuhren wir, während das Baby inzwischen mit seiner Familie hinter mir weiter schrie – müssten Passagiere von einem anderen Zug aufgenommen werden, der leider, leider nicht mehr weiterfahren könne wegen technischen Problemen.
Horden junger Menschen strömten in Wustermark in den ICE 278, der Sprachmelodie nach alle aus einem osteuropäischen Land. Ich tippe Rumänien, Bulgarien oder Serbien. Sie verteilten sich auf alle Plätze, die es in den Gängen auf dem Fußboden noch gab. Es herrschte eine Lautstärke wie auf dem Rummel, das Abteil sah aus wie ein überfüllter Bus in Kalkutta, nur nicht so farbenfroh.
Kurz vor Spandau, ich überlegte, wie ich mit meinen zwei vollen Reisetaschen zum Ausgang ballancieren könnte, sprach mich ein junger Mann von der anderen Seite des Ganges – nicht des indischen Flusses, sondern des Ganges im Zug – an. Ob das Österreich-Spiel schon begonnen habe. Ich schaute nach, ja, es stand 1:0 für die Türkei. „Hier klappt auch gar nichts“, antwortete er.
Ich bin 65 Jahre, mein letzter medizinischer Check vor zwei Wochen war top, ich kalkuliere noch so mit 15 weiteren Jahren. Und, das verspreche ich Ihnen hier feierlich: Ich werde NIE wieder mit einem Zug der Deutschen Bahn fahren. Nie wieder. Auto, Fahrrad, Flugzeug oder Schlauchboot: Ich habe fertig mit dem Verein.
Als ich in Spandau endlich den ICE verlassen konnte, rannte ich zum Gleis 3, um meinen Regionalzug nach Hause zu erreichen. Als ich mit meinen Reisetaschen oben auf dem Bahnsteig ankam, rollte der genau in diesem Moment los. Nochmal 20 Minuten rumstehen, dann kam der RE10…
Bahnfahren ist vielleicht gut fürs Klima, aber nicht für die Nerven. Ich bin final raus…
Herzliche Grüße,
Ihr Klaus Kelle