von ESTHER VON KROSIGK
BERLIN – Mit Blick auf die aktuelle Flüchtlingspolitik des Bundes griff Berlins Regierender Bürgermeister Kai Wegner in einem Interview zu einer eindringlichen Formulierung: „Wir sitzen gesellschaftlich auf einem Pulverfass“. Bereits Ende September wählte er diese Worte – noch vor Beginn des Krieges in Israel und noch bevor es deswegen zu teils gewalttätigen Demonstrationen auf Deutschlands Straßen kam. In den knapp zwei Monaten, die seitdem vergangen sind, haben tausende Flüchtlinge das Land geflutet – allein im Oktober wurden in Deutschland fast 32.000 Erstanträge auf Asyl gestellt. Das sind laut Statistik deutlich mehr als im Vorjahresmonat. Tendenz also steigend.
Die Stimmung wurde immer gereizter – Gachenbach schließt seine Asylunterkünfte
Während die deutsche Hauptstadt und ihr Bürgermeister ob der zunehmenden Belastung stöhnen, kommt es landauf, landab zu aktivem Widerstand. So hat die bayerische Gemeinde Gachenbach, mittig gelegen zwischen Augsburg und Ingolstadt, nach acht Jahren entschieden, ihre beiden Asylunterkünfte zu schließen und keine Zuwanderer mehr aufzunehmen. Die Gründe sind vielfältig: Unter anderem kam es durch die Flüchtlinge zu Störungen bei Gottesdiensten, es gab sexuelle Übergriffe gegen Frauen und in den Asylunterkünften wurde an den Wochenenden laut gefeiert. Die Nachbarn beschwerten sich, die Stimmung insgesamt wurde gereizter.
Das war nicht immer so: Im Zuge der Willkommenskultur nahmen die Gachenbacher Bürger seit 2015 bereitwillig Fremde bei sich auf und ließen es nicht an Hilfsbereitschaft gegenüber Schutzsuchenden aus Afrika, Syrien und Afghanistan fehlen. Doch laut Bürgermeister Alfred Lengler ist nach etlichen unangenehmen Vorkommnissen nun Schluss. „Und wenn der Landrat kommt und sagt, ich brauche eine Unterkunft, dann werde ich sagen: Such dir welche, aber nicht bei uns.“, äußerte Lengler vor wenigen Tagen gegenüber der Welt. Konsequenzen fürchtet er deswegen nicht, mit Blick auf den Landrat fügte er an: „Der sagt, ich kann mich nicht wegducken. Aber ich sag’: Du wirst sehen, wie ich mich wegducken kann.“
Tatsache ist: In ganz Bayern platzen die Unterkünfte aus allen Nähten. Schon Ende 2022 lebten in den Asylunterkünften des Freistaats mit knapp 170 000 Menschen mehr als im Mai 2016, als man mit dem Ansturm von Migranten bereits zu kämpfen hatte.
Keine Kommune will die Vorgaben aus Berlin umsetzen und Fremde aufnehmen
Im Norden der Republik sieht es nicht viel anders aus. Um der Lage Herr zu werden, müssen überall neue Unterkünfte geschaffen werden, doch die Bevölkerung reagiert mit Wut und Ablehnung auf weitere Heime. Als die 500-Seelen-Gemeinde Updahl in Mecklenburg-Vorpommern Anfang des Jahres erfuhr, dass die Errichtung eines Asylheims mit fast 400 Migranten in Planung sei, schlugen die Wogen hoch. Die Bürger taten sich zusammen, demonstrierten und gingen auch rechtlich gegen die Bauplanungen vor – mit dem Ergebnis, dass bereits begonnene Bauarbeiten eingestellt werden mussten, da es keine Genehmigung gab. Schließlich machte das Landesbauministerium den Bau mittels Ausnahmeregelung im Bundesbaugesetz möglich – gegen den Willen der Gemeinde.
Von Seiten der Politik hören die Bürger stets dasselbe Mantra: Die Länder seien verpflichtet, eine bestimmte Anzahl von Flüchtlingen aufzunehmen. Vor Ort sieht das dann so aus: Wohin sich auch Landrat Tino Schomann in Nordwestmecklenburg wendet, tönt ihm ein lautes Nein entgegen. Keine Kommune will die Vorgaben aus Berlin bei sich umsetzen. Nun hat es Updahl getroffen und die Bürger revoltieren. Der Landrat sieht das eigentliche Problem bei der hohen Zahl der Neuankömmlinge: „Deutschland darf laut gesetzlicher Obergrenze maximal 200.000 pro Jahr aufnehmen. Letztes Jahr waren es fast 50.000 mehr.“ Auch Schomann sprach in einem Interview vor einigen Monaten wörtlich von gesellschaftlichem Sprengstoff: „Die Regierung hat nach 2015 nichts gelernt, was die Steuerung und Begrenzung von Migration angeht, und schickt nicht die 320.000 geduldeten Migranten zurück, die alle Rechtsmittel ausgeschöpft haben.“
Derweil bleiben die Hilferufe der Kreise und Gemeinden um eine Begrenzung ungehört – in Berlin gilt das Ganze primär als finanzielles und logistisches Problem.
Mit neuem Konzept will der Landkreis Görlitz die Verteilung der Asylanten verbessern
Tatsächlich aber haben die ansässigen Bürger große Sorge, wie das Zusammenleben mit Menschen aus anderen Kulturkreisen funktionieren soll. Weiterhin, wie sich ihr Ort wandeln wird, wenn der Anteil der neuen Bewohner sehr hoch ist. Eine Bürgerinitiative im Erdinger Ortsteil Bergham in Bayern, wo ebenfalls zeitnah eine Unterkunft entstehen soll, machte dies in einem sehr drastisch formulierten Schreiben deutlich: Der Zuzug von 200 Menschen führe zu einer „Überforderung der Dorfgemeinschaft und der Bevölkerung“. Es sei eine „Gefahr für alle Anwohner“ und „Frauen und Kinder trauen sich nicht mehr allein auf die Straße“.
Der Ort Gachenbach wird nach Abriss seiner beiden Asylunterkünfte alle diese Probleme nicht mehr haben. Ähnlich wie in Bayern wird auch im Kreis Görlitz das Friedensdorfer Flüchtlingsheim – ein ehemaliges Hotel, das lange als Vorzeige-Objekt galt – schließen. Die Konditionen hier sind jedoch andere als in Süddeutschland: Um den Flüchtlingsansturm zu bewältigen, hat der Landkreis neue Kriterien festgelegt, wonach Standorte für Asylheime ausgewählt werden. Da spielen zum Beispiel die Größe und die Einwohnerzahl des Ortes eine Rolle. Ebenso wird die notwendige Infrastruktur berücksichtigt, um eine medizinische Versorgung, Einkaufsmöglichkeiten und Kinderbetreuung für Alteingesessene und neue Bewohner zu gewährleisten. Ein solches Konzept sollte bundesweit Schule machen – zumindest bis die Bundesregierung das Migrantenproblem im Griff hat.
Bildquelle:
- Flüchtlingsboot: guardia costiera it/MASSIMO SESTINI