DRESDEN- Der Verfassungsschutz in Sachsen registriert eine Radikalisierung in Protestbewegungen. «Sowohl die Corona-Proteste als auch die Anti-Flüchtlings-Proteste haben zu einer Entgrenzung in der Mitte der Gesellschaft geführt. Rechtsextremisten propagieren Themen und finden damit Anschluss in der bürgerlichen Mitte», sagte Dirk-Martin Christian, Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz (LfV) der Deutschen Presse-Agentur.
Menschen aus der Mitte der Gesellschaft würden extremistischen Positionen nicht widersprechen und hätten nichts dagegen, gemeinsam mit Rechtsextremisten an der Seite zu demonstrieren. «Die Mitte der Gesellschaft wird brüchig.»
«’Wutwinter‘ bisher ausgeblieben»
«Wir haben im Freistaat unverändert ein latentes Protestmilieu», sagte Christian. Zuletzt seien Leute auch wegen des Ukraine-Krieges und der Energiepreise auf die Straßen gegangen. Die Proteste hätten aber bei weitem nicht das Ausmaß erreicht, das während der Corona-Pandemie oder zur Flüchtlingskrise 2015 eine Rolle spielte. «Der ‚Wutwinter‘ ist bisher ausgeblieben. Das heißt aber nicht, dass das Protestpotenzial verschwunden ist.» Je nachdem, welches Thema sich als Initialzündung eigne, könnten Proteste jederzeit aufflammen.
«Wir haben es mit Personen zu tun, die auf Themen mit Empörungspotenzial reagieren. Das sind zum Teil die gleichen Leute, die schon früher gegen Flüchtlinge auf die Straße gingen. Jetzt ist ihr Thema beispielsweise die Ampel-Koalition im Bund. Die Themen sind beliebig austauschbar, sie müssen einen nur im persönlichen Leben erfassen.» Das Protestmilieu bleibe vorhanden und sei jederzeit abrufbar. «Deshalb kann man keine Entwarnung geben. Viele Menschen bleiben in ihrer Protesthaltung.»
Rechtsextremisten verschaffen sich Akzeptanz
Christian zufolge bleibt Rechtsextremismus die größte Gefahr für die Demokratie – auch in Sachsen. Als Beleg nannte er auch den Umgang mit «völkischen Siedlern». Dahinter verbergen sich Rechtsextremisten, die in entlegenen Gebieten eine «intakte Volksgemeinschaft» anstreben und sich so dem «Multi-Kulti-Leben» in Großstädten entziehen wollen.
Solche Bestrebungen gibt es bundesweit, in Sachsen vor allem in der Gegend von Leisnig (Mittelsachsen). «Die Bevölkerung hält sie für ordentliche Leute, für fleißige junge Menschen mit Kindern. Auf diese Weise verschaffen sich die Rechtsextremisten eine Akzeptanz. Doch wenn die Mehrheit sich nicht abgrenzt, haben Extremisten ein leichtes Spiel. Eines Tages fällt der reife Apfel vom Baum.»
Laut Christian ist die Radikalisierung nicht auf «Rechts» beschränkt und zeichne sich auch in der Klimabewegung ab. «Bei Klimaaktivisten stellen wir eine gewisse Distanzlosigkeit gegenüber linksextremistischen Positionen fest. Es gibt Aktionsformen bis hin zu schweren Straftaten, die von Teilen der Klimabewegung nicht oder nur halbherzig zurückgewiesen werden. Linksextremisten versuchen, Bewegungen wie ‚Ende Gelände‘ oder ‚Fridays for Future‘ für ihre verfassungsfeindliche Agenda zu instrumentalisieren und Szene-Nachwuchs zu gewinnen. Die Bewegung ist sehr heterogen und in ihrer Gesamtheit nichtextremistisch. Extremisten sehen beim Thema Klima aber eine hohe Anschlussfähigkeit.»
Menschen schaukeln sich in Blasen hoch
«Nicht wenige Menschen haben Zweifel an der Demokratie und an unserem System, vor allem junge Leute. Es gibt ein tiefes Misstrauen gegenüber klassischen Medien», beschrieb der LfV-Präsident einen weiteren Befund. Immer mehr Leute würden sich nur noch über soziale Medien informieren. «Das ist eine Gefahr. Denn in sozialen Medien wird auch Meinungsmache organisiert. Die Menschen befinden sich in ihren jeweiligen Blasen und schaukeln sich darin hoch.» Christian spricht von «digitalem Extremismus».Die verbale Radikalisierung in der Gesellschaft werde vor allem über diese Kanäle weitergehen.
«Wenn unser politisches System scheinbare Schwächen zeigt, wird das sofort als Shitstorm in soziale Medien getragen und dramatisiert. Die Digitalisierung hat extremistischen Bestrebungen einen Schub gegeben. Man hat nicht das Gefühl, das aufhalten zu können und den Geist wieder in die Flasche zu bekommen.» Soziale Medien seien bei unkritischer Nutzung ein Problem. «Sie verändern unser Menschenbild, die Art des Umganges miteinander und auch das politische Denken.»
Bildquelle:
- Protest in Dresden: dpa