Am Tiefpunkt der Menschlichkeit angekommen

von MARTIN D. WIND

„Eigentlich“ sollte man diesen Begriff „eigentlich“ ja nicht verwenden. Dennoch! Eigentlich fehlen mir die Worte, um zu beschreiben, was ich empfinde, wenn ich manche Meldungen in den Medien lesen muss. Eine dieser Nachrichten ist folgende: In Cottbus ist ein junger Mann offenbar mit überhoher Geschwindigkeit durch die Innenstadt gefahren. Dabei erfasste sein Fahrzeug eine junge Frau, die an einer Bushaltestelle auf die Straße trat. Die junge Frau verstarb einige Tage später im Krankenhaus. Während sie schwerverletzt auf dem Asphalt lag, sollen der Todesfahrer und seine „Kumpel“ laut Zeugenaussage einer 19jährigen Schülerin, das Opfer – eine 22jährige Architekturstudentin aus Ägypten – in unerträglicher Weise verhöhnt haben.

Da sollen nach Medienberichten unter anderem Sätze gefallen sein wie: „Ja, mir ist klar, dass es bei euch keine Straßen gibt, aber in Deutschland muss man eben auf die Straße gucken.“ und „Verpisst Euch doch einfach wieder in Euer Land, dann werdet Ihr auch nicht angefahren – Scheißasylanten.“ Laut Medienangaben soll der Polizei von solchen Äußerungen bisher nichts bekannt sein. Öffentlich wurden diese Sprüche, nachdem die später hinzugetretene Zeugin ihre Eindrücke vom Geschehen am Unfallort in einem Jugendclub erzählt hatte. Der Leiter der Einrichtung riet der Schülerin, ihre Beobachtungen öffentlich zu machen.

Sollten diese Sprüche tatsächlich gefallen sein, dann wären sie Ausweis eines Tiefpunkts der Menschlichkeit. Wie abgebrüht, wie gefühlskalt, wie innerlich tot muss man sein, um einen schwerverletzten Menschen, der in seinem Blut auf der Straße liegt, zu beschimpfen und zu verhöhnen? Das ist ein Mangel an Mitgefühl für das Mitgeschöpf, ein derartiger Abgrund von Charakterdefizit und mangelnder Erziehung, dass mir schlicht die Worte fehlen, um meinem Entsetzen Ausdruck verleihen zu können. Man könnte – wenn überhaupt – solche Aussagen gegenüber einer schuldhaft dem Sterben überantworteten Person mit Schock und Selbstschutz erklären. Diese Erklärung ist aber in keinem Fall eine Rechtfertigung.

Da wird versucht, die Verantwortung für das eigene Versagen in eine Schuld des Opfers umzuwandeln. Aber hier geht das weit über solche (natürlichen) Schutzreflexe hinaus. Hier wird die Ethnie des Opfers zum Angelpunkt der Anklage: Dein Herkunftsland ist so unzivilisiert, dass Du nicht mal Straßen kennst, wird projiziert. Es ist Chauvinismus pur, der auf die vermeintliche Rückständigkeit der Infrastruktur in Herkunftsland des Opfers abhebt und damit das Opfer entwerten soll. Oder: Wärst Du nicht hier gewesen, hättest Du kein Asyl erhalten, dann wärst Du am Leben geblieben. Da bricht sich Frust über Menschen Bahn, die in Deutschland Asyl erhalten haben. Da wird das „Fremde“ thematisiert. Da entsteht der Vorwurf, dass man problemlos verantwortungslos durch eine Innenstadt heizen könnte, wenn diese nicht auch mit Menschen belebt wäre, die von der Regierung Schutz und Hilfe zugesagt bekamen.

Jeglicher Blick für den Menschen scheint verloren, jegliche noch so abstruse „Schuldzuweisung“ wird genutzt, um sich vor der Verantwortung für das eigene Handeln zu drücken. Das alles sind durchaus verständliche Mechanismen, die das Zusammenklappen der Psyche verhindern sollen. Denn wer kann mit dem Wissen umgehen, einen Menschen durch Dummheit und Machogehabe schwer verletzt oder gar getötet zu haben?

Erschreckend, geschmacklos und abstoßend an diesen „Rechtfertigungsversuchen“ ist die „neue“ Dimension: Es wird nicht mehr ein „Fehlverhalten“ des Opfers konstruiert, das das eigene Fehlverhalten hervorgerufen haben solle. Das kennt man auch aus dem Alltag. Nein, das bloße Dasein des Opfers und sein Anderssein wird zum Vorwurf gemacht. Und ein solches Empfinden, das sich den Weg ins Denken und Reden bahnt, macht sprachlos. Wie verkommen muss man sein, um einem schwerverletzten und sterbenden Menschen auf offener Bühne seine Herkunft und seine vermeintlichen Schutzbedürfnisse vorzuwerfen. Dass man in Deutschland solche Gesinnung im Jahr 2017 erleben kann, ist „eigentlich“ nicht zu fassen.

Bildquelle:

  • Cottbus_Ortsschild: emk cottbus

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