Sprachretter Kretschmann gegen den Gender-Unfug? „Jeder so, wie ihm der Schnabel gewachsen ist“

von THOMAS PAULWITZ

„Liebe Menschen“ will die Stadt Stuttgart künftig ihre Einwohner ansprechen – und damit auf die Anrede „Sehr geehrte Damen und Herren“ verzichten. Schließlich fehlen die Angehörigen des sogenannten dritten Geschlechts, wenn man lediglich die Damen und Herren anspricht, nicht aber die dazwischen. Wie unhöflich!

Stuttgart macht es damit der schrumpfenden Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) nach. Diese will neuerdings nichts mehr von Brüdern und Schwestern wissen, sondern sucht die Gemeinden mit der Anrede „Geschwister“ oder schlicht „Anwesende“ zu erreichen – zumindest solange noch jemand in den immer schlechter besuchten Gottesdiensten anwesend ist. Auf den Genderstern als Geßlerhut der politisch Korrekten schwören selbstverständlich sowohl die EKD als auch die Stadt Stuttgart.

„Überspanntes Sprachgehabe“

Einem, der in der Landeshauptstadt Stuttgart seinen Arbeitsplatz hat, wird es nun zuviel. Am Wochenende wetterte der baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann gegen die „Sprachpolizei“: „Von diesem ganzen überspannten Sprachgehabe halte ich nichts“, gab er der Deutschen Presse-Agentur (dpa) zu Protokoll. Freilich solle man darauf achten, niemanden mit Worten zu verletzen. „Aber jeder soll noch so reden können, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.“

Danke und hurra! Mit diesen Aussagen für sich genommen könnte man Kretschmann mit Fug und Recht für die Auszeichnung „Sprachwahrer des Jahres“ vorschlagen. Vielen Sprachfreunden dürfte er damit nämlich aus der Seele sprechen. Eine Mehrheit der Bürger hat die Nase voll von den behördlich gegenderten Wörtern, welche die Sprache des Volkes verhunzen. Nach einer repräsentativen INSA-Umfrage im Auftrag der Theo-Münch-Stiftung halten 62 Prozent der Befragten geschlechterbetonte Ausdrucksweisen für unwichtig.

Leise Zweifel

Obendrein stellt sich der grüne Ministerpräsident mit seiner Auffassung gegen die Linie seiner Partei, die Deutschland gnadenlos durchgendern will. Schließlich ist es mit Fritz Kuhn ein grüner Oberbürgermeister, der die Stuttgarter Verwaltung mit sprachpolizeilichen Verordnungen samt Gendersternen auf Trab halten will.

Den aufmerksamen Beobachter, der Kretschmanns Haltung zur deutschen Sprache über einen längeren Zeitraum wahrgenommen hat, beschleichen indes leise Zweifel. Dabei geht es nicht etwa um Kretschmanns Schwierigkeiten mit dem Hochdeutschen. Die haben ja fast alle, die im Südwesten leben. Der Stolz darauf („Wir können alles außer …“) sei ihnen gegönnt.

Rechtschreibung unwichtig?

Grund für eine gewisse Skepsis gegenüber Kretschmann sind vielmehr seine Einlassungen vom Januar dieses Jahres. Die Bedeutung, Rechtschreibung zu lernen, nehme ab, meinte er damals zur dpa. Man schreibe ja viel weniger mit der Hand. Außerdem gebe es ja „kluge Geräte“, die Grammatik und Fehler korrigierten. Im Zuge der sogenannten Digitalisierung könne die Rechtschreibkontrolle auch von Programmen übernommen werden. Der Grundschulverband Baden-Württembergs, der bereits die Schreibschrift abschaffen wollte, sprang damals dem Ministerpräsidenten bei. Handschrift und Rechtschreibung seien lediglich „Oberflächenmerkmale“.

Gegen diese Geringschätzung des Rechtschreibens erhob sich zwangsläufig Protest. Den Lesern der „Deutschen Sprachwelt“, die sich empörten, ließ Kretschmann durch den Referatsleiter für Bildungspolitik antworten: „Ihm [dem Ministerpräsidenten] ist es persönlich sehr wichtig, dass die Schülerinnen und Schüler die korrekte Rechtschreibung beherrschen und auch anwenden können.“ Zugleich müsse jedoch anerkannt werden, „dass sich die Welt in einem tiefgreifenden Wandel befindet. Die Digitalisierung durchdringt alle Lebensbereiche.“ Daher müsse man sich fragen, „welche Fertigkeiten der Mensch in welcher Ausprägung und Tiefe zukünftig beherrschen muss.“ Das heißt wohl: Rechtschreibung ist wichtig, aber eigentlich auch nicht; wegen der Digitalisierung und so.

Hoffnung auf „kluge Geräte“

Möglicherweise hat Kretschmann dabei seine Polizei im Sinn. In Baden-Württemberg scheitert – wie in anderen Bundesländern auch – etwa ein Fünftel der Bewerber für den Polizeidienst bereits am Deutschtest. Die Bundespolizei hat schon die Anforderungen für das Diktat, das Bewerber schreiben müssen, gesenkt. Die zulässige Fehlerquote wurde von 20 auf 24 Fehler erhöht – bei einem Text mit nur 180 Wörtern. Indem man die Anforderungen senkt, erhofft man sich wohl eine buntere Truppe.

Was treibt also Kretschmann zu seinen Aussagen zur Sprache? Ist es wirklich die Sorge um ein Kulturgut? Seine Hoffnung auf „kluge Geräte“, die einem die Rechtschreibarbeit abnehmen, und sein Eingeständnis, es falle ihm nicht leicht, stets auch die weibliche Form zu nennen, wenn er etwa von „Zuschauern und Zuschauerinnen“ spreche oder von „Polizisten und Polizistinnen“, lassen eher auf eine andere Motivation schließen: Bequemlichkeit. Das ist menschlich verständlich, aber bildungspolitisch bedenklich. Denn vielleicht nehmen irgendwann „kluge Geräte“ nicht nur das Schreiben und Sprechen, sondern womöglich sogar noch das Denken ab.

3:1 für Eisenmann

Ein weitaus besseres und glaubwürdigeres Bild gibt hier Kretschmanns Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) ab. Sie hat sich erstens für die Erhaltung der Schreibschrift eingesetzt. Sie hat zweitens im Schuljahr 2018/19 den Rechtschreibunterricht durch einen „Rechtschreibrahmen“ gestärkt, sondern auch in der Rechtschreibdiskussion ihrem Chef deutlich widersprochen: „Ich bin der Ansicht, daß wir vielmehr wieder ein deutliches Bekenntnis zur Rechtschreibung brauchen, gerade im medialen Zeitalter.“ Es gehe darum, „wieder eine bewußtere Haltung gegenüber Rechtschreibung“ aufzubauen.

Und drittens hat Eisenmann auch zur Frage der Stuttgarter Genderei eine klare Meinung: „Wir haben große wirtschaftspolitische Herausforderungen, bei uns geht es um Arbeits- und Ausbildungsplätze. Wenn dann das Gender-Sternchen oder die Anrede so im Mittelpunkt stehen, kann ich das nicht nachvollziehen.“ Damit steht es für Eisenmann nicht nur 3:1 im Sprachwettbewerb; man nimmt ihr auch ab, daß sie nicht nur aus reiner Bequemlichkeit, sondern auch aus inhaltlichen Gründen für eine klare und verständliche Sprache eintritt. Kretschmann hat freilich noch bis zur Landtagswahl am 14. März 2021 Gelegenheit, sein Ergebnis zu verbessern. Die Zuschauer dürfen gespannt sein, natürlich auch die Zuschauerinnen – ohne Pause vor „innen“.

Bildquelle:

  • Winfried_Kretschmann_MP: baden-wuerttemberg.de

Unterstützen Sie unsere Arbeit mit einer Spende

Jetzt spenden (per PayPal)

Jetzt abonnieren