Ein Gemeindeerlebnis, das einfach nur neidisch machen soll

von UWE SIEMON-NETTO

Wochenlang habe ich mich an dieser Stelle ausgeschwiegen. Nicht dass ich in dieser Zeit gefaulenzt hätte. Nein, ich war so krank wie seit dem Vietnamkrieg nicht mehr, als ich wegen einer Amöbenruhr drei Tage im Koma lag und beim Aufwachen im amerikanischen Lazarett in Saigon meinte, ich wäre tot und im Himmel, und über mir schwebte ein schöner, schwarzhaariger Engel (der sich aber beim näheren Hinsehen als eine Schwester im Range eines Korvettenkapitäns entpuppte, welche sich angesichts meines skeletthaften Zustandes allen Flirtversuchen widersetzte).

Diesmal warf mich eine komplizierte Lungenentzündung um, verursacht von einem hartnäckigen Virus, das immer noch in meinem betagten Brustkorb rumort. Ich schreibe dies nicht, um Genesungswünsche zu erheischen, sondern vielmehr, weil sich daran eine wunderschöne vorösterliche Geschichte über gelebte Kirche und Seelsorge knüpft. Und jawohl: damit will ich meine Leser im deutschsprachigen Raum neidisch machen.

Mein Fall wurde noch dadurch komplizierter, dass meine behinderte Frau Gillian ebenfalls ins Spital musste. Also, erst landete ich im „Saddleback Memorial Hospital“ und danach sie, allerdings wegen eines anderen Leidens. Kaum war sie entlassen, fühlte ich mich elender denn zuvor. Der Sauerstoffgehalt in meinem Blut war auf 79 Prozent gesunken. „Es soll Leichen geben, die mehr haben“, frotzelte meine Internistin am Telefon. „Du musst sofort wieder in die Notaufnahme.“ Aber wie? Wer würde sich in meiner Abwesenheit um Gillian kümmern?

Ich rief Anita Rosebrough an, eine pensionierte Professorin für Krankenpflege, die mit ihrem Mann Radford, einem Notarzt, im Gottesdienst immer hinter uns sitzt. „Mach’ dir um Gillian keine Sorgen“, sagte sie. „Ich werde dafür sorgen, dass sie nahtlos betreut wird. Ab, ab mir dir ins Spital!“ Eine Nachbarin fuhr mich hin; es ist nur fünf Autominuten von meiner Haustür entfernt.

Ich saß noch an der Rezeption der Notaufnahme und füllte Formulare aus, da legte sich eine Hand auf meine Schulter. Ich hörte die Stimme Ron Hodels, des Hauptpastors der „Faith Lutheran Churchin Capistrano Beach in Kalifornien. „Sorge dich nicht, wir haben alles im Griff.“ Er begleitete mich in die Notstation. Während ich untersucht wurde, saß er zwei Stunden lang neben mir am Bett und erzählte, was in den 30 Minuten seit meinem Gespräch mit Anita geschehen war: Anita hatte in dieser kurzen Zeit minutiös einen gestaffelten Besuchs- und Seelsorgedienst organisiert. Pfarrer Hodel kam zu mir. Sie ging
zu Gillian. Zwei Stunden später löste ihr Mann sie ab und brachte das Mittagessen. Danach trat ein anderes Gemeindeglied an Radfords Stelle. Abends rollte unsere Gemeindesekretärin Janice Lowe ihre Luftmatratze in meinem Büro neben dem Schlafzimmer aus und übernachtete bei uns. Am Abend kam ihr Mann James, ein Rechtsanwalt, und brachte den beiden Damen ein exquisites Gericht mit einem vorzüglichen Wein.

Dieser Besuchsdienst wiederholte sich in den folgenden Tagen, nur mit anderen Akteuren. Jetzt übernachtete eine Dame, die ich nur vom Sehen her kannte, in meinen Studio, und danach eine andere. Alles vollzog sich unaufdringlich, als wäre dies das Natürlichste der Welt. Christlich gesehen war es ja auch das Natürlichste der Welt. Aber wo, bitte? Und wann? Na bei uns eben, in unserer nur 370 Seelen zählenden lutherischen Gemeinde in Südkalifornien. Da wurde nicht gefrömmelt. Da wurde nicht heilig gefaselt. Da wurde einfach christlich gehandelt.

Im „Saddleback Hospitalwich Pfarrer Hodel erst von meiner Seite, als ich in die Hauptstation gerollt wurde. Am nächsten Morgen war er wieder da und verbreitete in meinem Krankenzimmer so viel Heiterkeit, dass mein vermeintlich vom Glauben abgefallener, schwer kranker Mitpatient, zufällig ein ehemaliger Lutheraner, und das Pflegepersonal breit lächelten und hernach zum Gebet und Segen den Kopf senkten. Auch diese Szene wiederholte sich in den Folgetagen, während unser zweiter Pfarrer, Jeremy Rhode, einen Hausbesuch bei Gillian machte.

Als ich dann schließlich wieder daheim war, brachte Hauptpastor Hodel das Altarsakrament und zelebrierte eine Abendmahlsfeier in unserem Wohnzimmer, nach lutherischer Tradition komplett mit Allgemeinem Beichtgebet und Konsekration. Sagte ich, dass dies normal sei? Vielleicht nicht, wenn wir das weltweit finstere Umfeld als normal betrachten mit seinen Hetzparolen auf allen Fernsehkanälen, mit leeren Gotteshäusern in Europa und hoch bezahlten, aber von Schmuddelsex besessenen Sesselpupsern und -pupsetten in landeskirchlichen Kanzleien, mit Geistlichen, die vom Verwaltungsdienste erdrückt werden, statt sich leidender Seelen anzunehmen.

Ron Hodel und Jeremy Rhode müssen ihre Zeit nicht auf Administration verschwenden; das machen kompetente Gemeindeglieder. Sie arbeiten geschliffene 20-Minuten-Predigten aus: eine Stunde pro Predigtminute, wie sich das gehört, und sie betreiben weder Sozialpolitik und eine Demontage göttlicher Schöpfungsordnungen sondern ganz einfach Seelsorge, so wie sie es bei uns taten. Dazu sind sie ausgebildet. Das ist ihre Berufung. Österlich betrachtet, ist „Faith Lutheran Churchaber das ganz normale Licht in einer pechschwarzen Welt. Es gibt viele solcher Lichter, auch in Deutschland, dessen bin ich sicher. Man muss nur den Mut aufbringen, sie zu finden und sich an ihnen die eigene Kerze anzuzünden

Bildquelle:

  • Christ: pixabay

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