BUCHKRITIK Vom Fluch des Nationalismus: Was macht Italien eigentlich aus?

von DR. STEFAN WINCKLER

Der Mythos des Risorgimento, der nationalen Einigung Italiens, liest sich ungefähr so: Nach Napoleons Sturz zog die Reaktion in Italien ein, verantwortet vom neoabsolutistischen Kaisertum Österreich, das Italien lediglich als „geografischen Begriff“ betrachtete. Die Mächte der Finsternis seien zunächst von der revolutionären Untergrundbewegung der Carbonari bekämpft und dann bis 1861/70 unter großer Anteilnahme des Volkes von so unterschiedlichen Persönlichkeiten wie Mazzini, Garibaldi und Cavour beseitigt worden. Wie heißt es doch in der Nationalhymne:  „Wir wurden seit Jahrhunderten getreten und ausgelacht, weil wir kein Volk sind, weil wir geteilt sind. Es vereinige uns eine einzige Flagge, eine Hoffnung: auf dass wir verschmelzen, wofür die Stunde hat schon geschlagen. (…) Lasst uns die Reihen schließen, wir sind bereit zum Tod, wir sind bereit zum Tod, Italien hat gerufen!“ Die Auslands-Italiener in der österreichischen Provinz Küstenland (Terre irredente – das unerlöste Land) mussten sich freilich noch bis 1915 im „Völkerkerker“ Österreich gedulden, bis sie erlöst wurden.

War es wirklich so, wie die liberale und italonationale Geschichtslegende nahelegt?

David Gilmour, ein langjähriger Italien-Kenner (und -liebhaber), freier Schriftsteller und Historiker, widerspricht solchen gefühlsgeladenen Schilderungen. Sein unterhaltsamer Streifzug durch die italienische Geschichte und Kultur von der Stadtgründung Roms bis zur Gegenwart ist keine streng wissenschaftliche Ausarbeitung, sondern ein weiteres Musterbeispiel für eine erzählende, sehr faktenreiche Geschichtsdarstellung, in der die persönliche Meinung des Verfassers immer wieder pointiert, aber begründet hervortritt.

Es gelingt ihm, dem Leser die Verfassungswirklichkeit der Stadtrepubliken Florenz und Venedig nahezubringen, das Wetteifern auf künstlerischem Gebiet zu beschreiben, ebenso den Zustand der einzelnen Staaten von Piemont bis Neapel-Sizilien am Vorabend der nationalen Erhebung zu charakterisieren. Doch halt! Gab es überhaupt das Risorgimento als Massenbewegung von den Alpen bis zum Ätna? Kennzeichnend für Italien sei eher das Gegenteil: Unterschiedliche Gruppen von Einwanderern besiedelten die italienische Halbinsel, von Kelten und Griechen bis hin zu Albanern. Dann bestanden einzelne Staaten zwischen den Alpen und Sizilien, die kaum etwas Gemeinsames verband, selbst die Sprache sei höchst heterogen gewesen. Die Dialekte weichen noch immer deutlich voneinander ab.

Was Gilmour nicht erwähnt: schon Dante nennt in seinem Werk über die Volkssprache 14 verschiedene italienische Staaten, die scheinbar jeweils eine eigene Sprache hatten, und die bei genauerem Hinschauen jeweils zwei- oder mehrsprachig waren (Dante: De Vulgari Eloquentia, erstes Buch, zehntes Kapitel). Kein Wunder, dass angesichts dieser Unterschiede und der internen Rivalitäten die nationale Einigungsbewegung des 19. Jahrhunderts nicht allzu zugkräftig gewesen sei, denn auch unter der österreichischen „Knute“ habe man kaum gelitten, und selbst das „reaktionäre“ Königreich beider Sizilien war besser als sein Ruf. Der Leser mag einwenden, dass es nach Vollzug der Einigung überwältigende Mehrheiten für den neuen zentralistischen Gesamtstaat gab. Dabei sei aber die suggestive Fragestellung auf dem Abstimmungszettel zu beachten, vielleicht auch die Art und Weise der Auszählung, so Gilmour.

Nicht nur Venedig trauerte seiner großen Vergangenheit als selbstständiger Staat nach. In Süditalien kam es sogar zu politischer Gewalt, die weniger klassenkämpferisch als vielmehr anti-piemontesisch motiviert gewesen sei, denn die neue, aus dem Norden stammende politische Klasse habe den Mezzogiorno nicht gekannt und nicht verstanden, wohl auch nicht verstehen wollen. In Ergänzung zu Gilmour kann konstatiert werden, dass das Deutsche Reich von 1871 erheblich besser verfasst war – denn der Föderalismus war stark ausgeprägt, „Berlin“ konnte nur sehr eingeschränkt in süddeutsche Belange hineinregieren. Außerhalb Preußens blieben die einzelnen konstitutionell-monarchischen Bundesstaaten und die norddeutschen Stadtstaaten intakt, die Süddeutschen fühlten sich weit weniger „fremdbeherrscht“ als die Süditaliener. Nicht zuletzt galt ein allgemeines Männerwahlrecht zum Deutschen Reichstag, während in Italien nur zwei Prozent der Bevölkerung wahlberechtigt waren – das Abgeordnetenhaus in Rom konnte wohl die Meinung des Geburts- und des Geldadels abbilden, aber nicht die Bevölkerungsmeinung.

Gilmour schließt: „Die Teile [Italiens] sind so großartig, dass eine einzige Region – die Toskana zum Beispiel oder Venetien – es mit jedem Land der Welt aufnehmen kann, in der Kunst ebenso wie im kulturellen Reichtum seiner Vergangenheit. Doch die Teile summieren sich nicht zu einem kohärenten oder wiedererkennbaren Ganzen. Das geeinte Italien wurde nie die Nation, die ihre Gründer erträumt hatten, weil diese Einheit ,eine Sünde gegen die Geschichte und gegen die Geographie‘ war“ (S. 409).

Das junge italienische Königreich mit seiner piemontesisch bestimmten Führung betrieb eine geradezu widersinnige kolonialistische und mit dem Eintritt in den Ersten Weltkrieg 1915 expansionistische Politik, die hunderttausende Menschenleben kostete, so der Verfasser.

Nach 1919 provozierte der Radikalismus der Sozialisten das Aufkommen der faschistischen Bewegung, die meines Erachtens den vorherigen eher konventionellen Imperialismus ins Politisch-Perverse steigerte. Die liberale Mitte versagte gegenüber beiden Ausprägungen des Extremismus, wie Gilmour zu Recht betont. Es spricht für Gilmour, dass er auf jene Schwäche des Establishments hinweist. Auch das Ziel des Totalitarismus, den „neuen Menschen“ zu schaffen (Mussolini sprach von „plasmare“ – „formen“ und „forgiare“ – „schmieden“) kommt zum Ausdruck.

Alles in allem wird sich derjenige Leser bestätigt fühlen, der dem Regionalismus und einer bundesstaatlichen Ordnung den Vorzug vor Zentralismus und nationalem Überschwang gibt. So ist das Buch weit über die italienischen Belange hinaus eine empfehlenswerte Lektüre – in einer Zeit, in der die Besinnung auf das Eigene in Norditalien, Schottland, den spanischen Landesteilen wie Katalonien von großem Einfluss ist. Das Buch kann demjenigen gefallen, der sich von geschichtlichen Mythen (s.o.) und Medienfiguren der neueren Zeit wie Berlusconi nicht blenden lassen mag, und der zugleich auch die „etablierte“ politische Klasse mit Skepsis betrachtet.

Gilmours Überblicks-Darstellung kann anregen, sich in einzelne Sachfragen mit Hilfe spezieller Literatur zu vertiefen, z.B. in kulturelle und politische Blütezeiten der Vergangenheit oder die Verquickung von Mafia und Politik. Er übertreibt hingegen, wenn er heute noch in Venetien und Friaul-Julisch Venetien eine Sehnsucht nach den Habsburgern zu erkennen glaubt (S. 215f.). Gilmours Fazit ist beizupflichten: „Der eigentliche Bruch in der italienischen Geschichte des 20. Jahrhunderts vollzog sich nicht im Jahr 1922, sondern am Ende des Zweiten Weltkriegs. Nach 1945 verschwand die Gesinnung des Risorgimento, die liberal, nationalistisch und antiklerikal gewesen war. An ihre Stelle traten die antinationalistischen Ideologien des Kommunismus und der Christdemokratie. Gleichzeitig gab Italien seine Großmachtansprüche auf und konzentrierte sich sehr viel erfolgreicher auf das Ziel, den Wohlstand seiner Bevölkerung zu mehren“ (S. 341).

David Gilmour: Auf der Suche nach Italien. Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart. Stuttgart: Klett-Cotta, 2016. Broschur (gebundene Erstausgabe 2013), 462 S.,  ISBN 978-3-608-94929-2; € 14,95. 

Bildquelle:

  • Italien_Espresso: pixabay

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